Sie sind hier: ...mehr]
Dr. Georg Kronawitters A bis Z: Wahr, halbwahr oder falsch - 10 (immer noch) populäre Irrtümer zur Münchner S-BahnVerwandte Themen: [Zweisystem-U-Bahnen für München] [Verkehr] [MVV] [S-Bahn] [U-Bahn] [Bahnsteigtüren] | extern: [MVV-Blog] |
(Stand: 13.03.2022)
- Inhalt im A4-Format drucken [
AnlassIm Zuge der Diskussion um die 2. S-Bahnstammstrecke tut es auch nach fast 10jähriger öffentlicher Debatte not, bestimmte, immer wiederkehrende Aussagen von Politikern, Bahnvertretern, Verwaltungsleuten und Journalisten auf ihren Wahrheitsgehalt abzuklopfen. Viel Vergnügen! Wenn Sie wissen wollen, welche Lösung ich parat habe, dann lesen Sie bitte gleich das Kapitel [Bahnknoten München 2010] oder [Zweisystem-U-Bahnen für München]. Eine weitere Lesempfehlung: in jüngerer Zeit hat der renommierte Verkehrswissenschaftler em. Prof. Dr.-Ing. Peter Kirchhoff aufgezeigt, welche konkreten Ertüchtigungsmaßnahmen bei der ersten S-Bahn-Stammstrecke angesagt sind und dabei auch die Einführung von Bahnsteigtüren vorgeschlagen (Interview). N.B.: Die anhaltende Kontroverse um die 2. Stammstrecke hat auch ihr Gutes: so wurde die DB dazu gebracht, zentrale Schwächen der ersten Stammstrecke konstruktiv zu beseitigen. Ich meine hier
Populäre Irrtümer
|
[Anfang] 1. "Die S-Bahn-Stammstrecke wurde ursprünglich für 220.000 Fahrgäste pro Tag konzipiert."Richtig ist, dass um 1970 für das Münchner S-Bahn-Netz eine Tagesnachfrage von ca. 220.000 Fahrgästen erwartet wurde - nachdem das Vorläufer-System, die DB-Vorortzüge, es gerade mal auf 160.000 Fahrgäste brachte. Umso erfreuter waren alle Verantwortlichen, dass schon im ersten Betriebsjahr täglich 30.000 Fahrgäste mehr als erwartet die S-Bahn nützten - also 250.000 /S1997, S.136/. Die Leistungsfähigkeit der Stammstrecke war aber von vorneherein viel höher angelegt: Ein Artikel von Bundesbahnoberrat Ludwig Wehner in "Signal und Draht" 62 (1970) bestätigt, dass die Stammstrecke für einen 120s-Takt (30 Züge pro Stunde) konzipiert war, der in "Flutzeiten" auf 90s (40 Züge pro Stunde) verkürzt werden sollte. Um auch hier noch Reserven zu haben, wurde eine technisch minimale Zugfolgezeit von 72s (= 50 Zugpaare pro Stunde) angepeilt. Ja, man kann sogar noch weiter zurückgehen: schon die S-Bahn-Planungen der Reichsbahn sahen 1938 für Ost-Westtunnel Zugfolgezeiten von 90 Sekunden vor /S1997, S. 23/. Daher wurde die Stammstrecke von Anfang an mit einer Linienzugbeeinflussung (LZB) ausgestattet, die ein dichteres Fahren erlaubt als das ortsfeste konventionelle Signalsystem. Richtig ist aber auch, dass aufgrund von technologischen Problemen bei der LZB bzw. der damals verfügbaren Rechnertechnik dieser technische Ansatz nicht realisiert werden konnte. Das anschließend optimierte konventionelle - "ortsfeste" - Signalsystem erlaubte bis zur umfassenden Modernisierung 2004/5 bei einer minimalen Zugfolgezeit von 126s einen stabilen Betrieb mit immerhin 24 Zügen pro Stunde und Richtung /S1997 S.42/. Hier noch eine kleine Abschätzung, was diese Zahlen für die Fahrgastkapazität bedeuten: Ein Langzug weist eine Maximalkapazität von rund 1.500 Plätzen auf (bei 4 Personen pro m2). Bei 2x24 Langzügen pro Stunde werden also 72.000 Plätze pro Stunde angeboten! Das ist gigantisch - vor allem wenn man bedenkt. dass derzeit ohnehin nur 500.000 S-Bahn-Fahrgäste im Stadtgebiet unterwegs sind, von denen etwa 200.000 die Stammstrecke passieren. Noch krasser sind die Kapazitätsreserven bei den heute üblichen 30 Zügen. Hier beträgt die stündliche Beförderungskapazität 90.000 - bei voller Zuglänge (Langzüge). [Anfang] 2. "Die S-Bahn-Stammstrecke steht vor dem Kollaps"Haben schon die Ausführungen im Kapitel 1 erkennen lassen, dass die Stammstrecke deutliche Reserven aufweisen muss, so bestätigt dies ein Blick in den täglichen Betrieb während der Hauptverkehrszeit: Reihenweise verkehren hier - zweiteilige - Vollzüge statt der 50% aufnahmefähigeren - dreiteiligen -Langzüge. Eine eigene Auswertung an der Station Rosenheimer Platz hat ergeben, dass die mögliche Zuglänge im Stunden-Mittel nur zu 75,1% ausgenutzt wird. Setzt man diesen Wert als Bezugswert für die heutige Kapazität zu 100%, dann kann man durch Ausnutzung der gesamten Zuglänge 33% also ein sattes Drittel der heutigen Kapazität zusätzlich aktivieren. Zum Vergleich: alle aktuellen Prognosen sagen für die Region München ein Verkehrswachstum von 20% voraus - wovon aber nur 6% auf das eigentliche Stadtgebiet entfallen - der heutige Tunnel würde das "locker" abdecken. [Anfang] 3. "Die S-Bahnstammstrecke kann keine Fahrgäste mehr aufnehmen."Immer noch ungläubig - trotz der Ausführungen im Kapitel 2? Die Platzreserven der S-Bahn auf der Stammstrecke sind - auch im Berufsverkehr - augenscheinlich. Zumindest auf den Linien, die einen 10-Minuten-Takt aufweisen. Das rechte Bild wurde während der HVZ am Di. 24.März 2009 um 8h10 auf der S4 stadteinwärts zwischen Ostbahnhof und Rosenheimer Platz aufgenommen - Sitzplätze zum Aussuchen. Dabei verkehrt auch diese S4 nicht als Ganz-, sondern nur als Vollzug. Übrigens: ein allgemeiner Trend unserer Arbeitswelt - Reduzierung des Produktiv-, Steigerung des Dienstleistungssektors - führte die letzten drei Jahrzehnte in Deutschland dazu, dass sich die morgendliche Spitzenbelastung im Verkehr um etwa 30% verringert hat zugunsten einer zeitlichen Ausdehnung dieser Phase - ein erfreulicher Trend für die Verkehrsanbieter, wird doch die teure Fahrzeugkapazität besser ausgenutzt. [Anfang] 4. "Die S-Bahn-Fahrgäste wollen alle ins Zentrum."Schön und gut, werden Sie vielleicht sagen, "aber die S-Bahn-Fahrgäste wollen alle ins Zentrum." Wirklich? Der MVV hat festgestellt, dass von den täglich ca. 800.000 S-Fahrten
Ein zweites kommt hinzu: die Zahl der Fahrgäste, die mit der S-Bahn ins Zentrum wollen, war vor gut 20 Jahren höher als heute. Am Marienplatz ist die Anzahl der Aus-, Ein- und Übersteiger von werktäglich 196.000 (1987) auf 169.000 (2002) gesunken, das immerhin entspricht einer Abnahme um 13% (siehe rote Kurve)! Im gleichen Zeitraum nahm die Zahl der Aus-, Ein- und Übersteiger am Ostbahnhof um 32% zu! Folge: Der Ostbahnhof hat den S-Bahn-Halt Karlspatz vom dritten Platz - was die Passagierfrequenz betrifft - verdrängt! Grund? Der Grund ist die Inbetriebnahme der U5 zwischen Hauptbahnhof und Ostbahnhof im Jahre 1988. Dies hat die Stammstrecke maßvoll entlastet, - offenbar wollten 12% gar nicht mehr ins Zentrum, sondern fanden die nördlich liegende U5 attraktiver - aber die Anreise per S-Bahn zum Ostbahnhof attraktiver gemacht - eine win-win-win-Situation also. [Anfang] (Stand: 5.06.2015) 5. "Mit der 2. S-Bahnstammstrecke verlieren Stammstreckenstörungen ihren Schrecken."Ein schöne Vorstellung: ist die erste Stammstrecke gesperrt, steig ich einfach in die 2. ein. Leider eine Chimäre. Warum?
[Anfang] 6. "Für einen 10-Minuten-Takt ist der 2. S-Bahn-Tunnel unabdingbare Voraussetzung."Diese Aussage ist so nicht haltbar. Allerdings steckt hinter dem plakativen Begriff "10-Minuten-Takt auf allen Außenästen" ein differenzierter Sachverhalt:
Meine Haltung ist hier ganz klar: Das Kapazitätsproblem des S-Bahnsystem liegt - ausschließlich - im Münchner Westen, also sollte die Lösung auch im Westen gesucht werden. Die Zeit ist reif für den seit über 4 Jahrzehnten vorgesehenen Betriebsverbund von U- und S-Bahn im Münchner Westen, wie ich ihn [hier] dargestellt habe. [Anfang] 7. "Ein durchgängiger 15-Minuten-Takt ist besser als ein 10-Minuten-Takt."Nach wie vor überwiegt die Nutzung der S-Bahn in der Hauptverkehrszeit (HVZ). Angesichts der wesentlich vielfältigeren Vernetzung des gesamten innerstädtischen ÖV-Netzes und dem inhärenten Zwang zum Umsteigen an den Knoten des Netzes, müssen die Wartezeiten an den Umsteigepunkten gering sein, damit der Fahrgast dies akzeptiert. Unter diesem Aspekt ist ein 10-Minuten-Takt unverzichtbar für die Akzeptanz eines öffentlichen Verkehrsmittel in großstädtsicher Umgebung, wie erst 2007 durch eine MVV-Markterkundung erhärtet wurde. M.a.W.: der 15-Minuten-Takt ist nicht marktgerecht. [Anfang] 8. "Der Flughafen-Express braucht die 2. Stammstrecke."Irrtum - es ist eher umgekehrt: die 2. Stammstrecke braucht den Flughafen-Express. Wie der unten abgedruckte Ausschnitt aus dem Flughafen-Gutachten Stand 29.1.2009 für die Nahverkehrs-Varianten zeigt, schneiden im Osten die beiden Varianten, die entweder die 1. oder die 2. Stammstrecke als Flughafenexpress verwenden bei der zugrundeliegenden Bewertungsmethode gleich gut ab, wobei die 1. Stammstrecke von der Verkehrsprognose her sogar leicht überlegen ist! Das die 2. Stammstrecke überhaupt aufschließen konnte zur ersten, ist einer - weiteren - Umplanung des Ostabschnittes geschuldet, da sich herausgestellt hat, dass ein Flughafen-Express Ost auf jeden Fall den Ostbahnhof bedienen muss. Genau dies war bei den bisherigen Planungen für die 2. Stammstrecke nicht der Fall. Ausschnitt aus der Ergebnistabelle der Nahverkehrsvarianten Stand 29.01.2009 [komplett]. [Anfang] 9. "Die 2. Stammstrecke ist für Olympia 2018 unabdingbar."Das Thema hat sich bekanntlich erledigt. Aber dennoch bleibt ein Gschmäckle, wie auch die Bewerbung für die Olympischen Winterspiele 2018 in den Jahren 2010 und 2011 dazu herhalten musste, den Bau des 2. S-Bahn-Tunnels als angeblich unverzichtbare Voraussetzung für die Bewältigung des Oly-Verkehrs herbeizubeten. Dabei ist doch jedem Münchner klar, dass das Oktoberfest oder auch nur ein Champions-Liga-Spiel das Schnellbahnsystem erheblich stärker fordert als das überschaubare Zusatzaufkommen für einige Wintersport-Wettbewerbe in München. Man kann es nur so sagen: wer sich nicht entblödet, solche Argumente zu bemühen, zeigt eigentlich, wie dünn die Begründungsdecke für die 2. Stammstrecke wirklich ist.Stichwort Oktoberfest: Ist Ihnen schon aufgefallen, dass die 2. Stammstrecke für die Anbindung der Festwiese nicht nur nichts beiträgt, sondern sogar kontraproduktiv sein dürfte, weil sie den Wies'nbahnhof Hackerbrücke nicht bedient? [Anfang] (Stand Mai 2015) 10. "Die 2. Stammstrecke ist in trockenen Tüchern."Nach den ursprünglichen Planungen von Minister Otto Wiesheu sollte die 2.Stammstrecke schon 2010 fertig sein. Seine Nach-Nachfolgerin Emilia Müller nannte als Baubeginn 2009, genauso wie Klaus-Dieter Josel, der Bevollmächtigte der DB für den Freistaat Bayern. Der frühere Verkehrs-Minister Martin Zeil (FDP) hat Mitte Mai 2009 die Prognose 2010 abgegeben (TZ-Artikel). Seither werden im Halbjahres-Rhythmus Termine genannt und bald wieder mit Fragezeichen versehen. Im Mai 2015 wurde vom nun zuständigen Bay. Innenministerium ein Durchbruch für 1. Quartal 2016 erwartet. Ungeklärter denn je ist die Finanzierung - vor allem wegen der vermutlich stark gestiegenen Kosten auf über 2,57 Mrd. Euro (Stand Mai 2015). Trotz etlicher Finanzierungsklimmzüge (Beteiligung der Stadt München, Umwidmung des Flughafen-Darlehens) ist die Finanzierung nach wie vor nicht gesichert. Das trifft v. a. für die Beteiligung des Bundes zu. Er darf sich nach den geltenden gesetzlichen Regelungen nur beteiligen, wenn die Standardisierte Bewertung einen Nutzen-Kosten-Faktor (NKF) größer 1,0 ergibt. Daher muss auch der Bundesrechnungshof (BRH) erst seine 2006 unterbrochene Prüfung des Projektes wiederaufnehmen und dabei zu dem Ergebnis kommen, dass die Nutzen-Kosten-Untersuchung (NKU) ein positives Ergebnis, das heisst einen Wert deutlich größer als 1,0 liefert. Dann ist aber immer noch nicht geklärt, in welcher Höhe der Bund dieses sehr regionale Projekt mitfördern kann. Bekanntlich sind ja die zur Verfügung stehenden "Töpfe" mehrfach überzeichnet. Auch beim Freistaat Bayern ist keineswegs ausgemacht, dass die Mitfinanzierungsbereitschaft grenzenlos ist. Und letztlich hat auch die Finanzierungszusage der Stadt München nach Äußerungen von OB Reiter ein Verfallsdatum. Ein Projekt in "trockenen Tüchern" schaut anders aus. Schön, dass auch in Münchner Tageszeitungen hin- und wieder ein realistischer Blick auf dieses Projekt aufscheint, z. B. [S-Bahn-Tunnel: fünf bittere Wahrheiten ] oder hier [2. Stammstrecke: Der Zeitplan wankt schon wieder ].Verwandte Themen[Verkehr] [MVV] [S-U-Bahn] [U-Bahn] [Bahnsteigtüren]Links[S-Bahn München in Wikipedia] [Offizielle Projektseite der DB ]Quellen/S1997/ Pospischil R., Rudolph E: S-Bahn-München. Alba-Verlag, 1997 |